Ursula Forrer
feierte mit der Stiftung Zeitvorsorge das 10-Jahres-Jubiläum.
André Wigger las zwei Lebensgeschichten aus dem Buch "Frauenwege". z.V.g.
25 Geschichten von Frauen, die Gossau im 20. Jahrhundert mitgeprägt haben, umfasst das eben erschiene Buch «Frauenwege». Buchhändler André Wigger las in der Stadtbibliothek zwei der Lebensgeschichten vor, die Urenkelin einer Protagonistin umrahmte den Anlass musikalisch.
Stadtbibliothek «Marie Fürer-Müller hatte sich immer eine grosse Familie gewünscht – und diese bekam sie. Zehn gesunden Kindern durfte sie das Leben schenken… Nach dem Tod einer Verwandten wurde für einige Jahre auch noch ein Pflegekind in die Familie aufgenommen», heisst es in der Lebensgeschichte einer der Protagonistinnen, deren Geschichte André Wigger an der Vernissage vortrug. Marie Fürer-Müller führte mit ihrem Mann Otto während fast vier Jahrzehnten den Stadtbühlbeck an der Herisauerstrasse, bevor sie die Bäckerei 1968 an ihren jüngsten Sohn Franz und dessen Frau Idda übergab. Just dieser Franz wirkte für die Lebensgeschichte seiner Mutter als Spurensucher. Dass die Geschichten auch viel über den damaligen Zeitgeist aussagen, zeigt exemplarisch jene Stelle, die davon handelt, wie Marie Fürer-Müller «aufgeklärt» wurde: «Tante Babettli habe gefragt, ob sie sich auf die Hochzeit freue. Sie sagte, sie habe schon ein wenig Angst. Die Tante antwortete, dass sie keine Angst haben müsse, es sei nämlich schön. Dies zu wissen, genügte der damals 29-Jährigen.»
Welche Bedeutung damals Kirchenbesuche hatten, erschliesst sich aus jener Episode, die in den Fussnoten festgehalten ist und die Brigitte Hollenstein-Gemperle, Präsidentin des Vereins Frauenspur Gossau, nach dem ersten Teil der Lesung nachschickte: Marie Fürer-Müller sei immer um 6 Uhr in die Messe gegangen und habe so die zweite Hälfte der ersten und die erste Hälfte der zweiten Morgenmesse miterlebt.
Nicht nur indirekt über die Lebensgeschichten der porträtierten Frauen erfährt man Wissenswertes über das Leben in der damaligen Zeit, sondern auch in geschichtlichen Beiträgen im Buch, wie zum Beispiel zur Sexualaufklärung der Frauen im 20. Jahrhundert oder zur hohen Kindersterblichkeit in Gossau. Die farbigen Bildtafeln von Annelies Egli, die zum vierköpfigen Vorstand des Vereins Frauenspur Gossau gehört, wecken ebenfalls Erinnerungen an Menschen, Orte und Tätigkeiten dieser Zeit. Hollenstein-Gemperle hatte in ihrer Begrüssung nicht umsonst gesagt, an der Buchvernissage könne man «eintauchen in eine Zeit, als wir noch Radio Beromünster hörten, uns freuten, wenn wir an Ostern erstmals Kniesocken anziehen durften und man sparsam telefonierte, weil es schlicht und einfach zu teuer war.»
Die präsentierten Lebensgeschichten stünden exemplarisch für viele andere Frauen dieser Zeit, so Hollenstein-Gemperle. André Wigger präsentierte dem Publikum anschliessend eine weitere spannende Gossauerin. Rösli Krucker-Koller, die sich selbst die «Hinterhofdichterin» nannte, schrieb in ihren Gedichten über Armut, Krieg und die konfessionelle Spaltung von Gossau. 2017 erschien mit «Schmelzungen» ihr erstes und einziges Buch, das von ihrem Leben und vom Dorf handelte, in dem sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte. «Zu Hause herrschte oft materielle Not. Die Armut war immer unser Gast» – so lautet ein Zitat von Rösli Krucker-Koller. Ihre Mutter stammte aus einem kleinen deutschen Dorf und brachte einen Sohn mit in die Ehe. Im zweiten Weltkrieg wurde Halbbruder Armin von der deutschen Wehrmacht eingezogen. Mutter und Schwester warteten während Jahrzehnten vergebens auf seine Rückkehr aus Stalingrad.
Nach dem Krieg begann Rösli Koller eine Lehre als Damenschneiderin. Sie lernte ihren späteren Mann Bruno Krucker kennen und zog mit ihm an den Gozenberg, wo die beiden drei Kinder grosszogen. Die weniger glücklichen Tage habe sie sich buchstäblich von der Seele geschrieben. Besonders intensiv lebte sie ihre Schreibbegabung im Pensionsalter aus, und zwar bis ins Alter von 92 Jahren, wie Spurensucherin Friedy Trottmann in Frauenwege berichtet.
Der abschliessende Dank von Hollenstein-Gemperle ging nicht nur an die Sponsoren und Spenderinnen für die finanzielle Unterstützung, sondern auch an Raffaela Fürer für die musikalische Umrahmung. Die Urenkelin von Marie Fürer-Müller hatte an der Harfe für die passenden Klänge zu den vorgetragenen Lebensgeschichten gesorgt.
Weiter dankte Hollenstein-Gemperle Regula Marti für den Film über die Entstehung des Buches, dessen Präsentation die Vernissage eingeleitet hatte. Er zeigte den 75 Besucherinnen und Besuchern die Arbeitsschritte für «Frauenwege» von der Recherche alter Zeitungsartikel in der Kantonsbibliothek bis hin zum Druck des Buchs.
Es habe viel Mut gebraucht nach «Frauenspuren» noch ein zweites Buch zu realisieren, erklärte Hollenstein-Gemperle: «Und jetzt wollen wir es auch verkaufen», wandte sie sich an die Gäste. «Mit dem Kauf des Buches unterstützt Ihr weitere Projekte und die Weiterführung des Gossauer Frauenarchivs. Und einige Ideen von uns möchten noch Flügel bekommen», so die Präsidentin. Wie beim ersten Buch habe man 1‘000 Exemplare gedruckt. «Frauenwege» ist in der Buchhandlung Gutenberg oder auf www.gutbuch.ch erhältlich.
Von Tobias Baumann
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