Julian Gemperli
misst sich bei den WorldSkills mit anderen Metallbauern.
Marcel Hörler erhielt von der Ausserrhodischen Kulturstiftung das "Artists in Residence"-Stipendium. z.V.g.
Kulturschaffende aus der bildenden Kunst und Architektur, angewandter Kunst und Design, Literatur, Tanz, Theater und Spoken Word sowie Musik und Film konnten sich bei der Ausserrhodischen Kulturstiftung für einen Werkbeitrag oder ein Artist-in-Residence-Stipendium bewerben. Letzteres erhielt Marcel Hörler.
Kunst und Kultur Geboren in Herisau und aufgewachsen in Stein: Marcel Hörlers Wurzeln liegen im Appenzellerland. Heute lebt und arbeitet er in Zürich. Zur Kunst fand er nicht auf direktem Weg, studierte er doch zuerst Soziale Arbeit mit Vertiefung Soziokultur. «Während meines Bachelorstudiums kam ich mit dem Projekt einer Studienkollegin in Berührung. Ihr Projekt 'Arthur Junior' beschäftigte sich mit Kunst im peripheren Raum im Toggenburg. Ziel war es, Kunst an Kinder und Jugendliche zu vermitteln. Das fand ich sehr spannend, denn ich bin selbst in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen, in denen ich nicht mit zeitgenössischer Kunst in Berührung kam», so Hörler. Sein Interesse wurde grösser. «Ich wurde Teil des Kollektivs, mit dem wir schliesslich die Dogo Resistenz in Lichtensteig gegründet haben», sagt Hörler. Seit 2015 realisiert er Kunst- und Kulturprojekte, 2021 schloss er den Master of Arts in Art Education, Curatorial Studies an der Zürcher Hochschule der Künste ab. Er arbeitet oft in Kollektiven. Seine letzte Ausstellung realisierte er in Lichtensteig. «Es ist ein Kunstspaziergang, bei dem der öffentliche Raum zur Ausstellungsfläche wurde. Arbeiten werden im Freien entdeckt – so können die Besucherinnen und Besucher flanieren, das Städtchen und dessen Menschen sowie die Kunst kennenlernen. In dieser Ausstellung geht es um Frida Edelmann-Knöpfel, die von 1864 bis 1921 in Lichtensteig lebte. «Sie hat ihre Erinnerungen in Mundart aufgeschrieben. Fünf Kunstschaffende setzten sich damit auseinander», so Hörler. So habe man neue Werke und zeitgemässe Antworten kreiert, welche von Fridas Erinnerungen inspiriert gewesen seien. Hörlers Ausstellungen entstehen aus Themen, die er dringlich und diskussionswürdig findet. «Ich finde ortsspezifisches Arbeiten sehr spannend. Da ich erst spät bewusst ein Kunstmuseum erleben durfte, sind mir etablierte Kunsträume für meine eigene Praxis eher fremd. In der sogenannten Alternativkultur habe ich mich immer sehr wohl gefühlt, das zeigt sich entsprechend in meiner Arbeit.»
Aus einer seiner vielen Ausstellungen ist die Publikation «HOX» entstanden. Jedes Jahr wird ein neuer Schwerpunkt gesetzt, zu dem Beitragende Texte, Bilder und Illustrationen einreichen. Jedes Mal wird im Entstehungsprozesses ein Event organisiert, damit Publikum und Mitwirkende sich austauschen und einbringen können. Marcel Hörler ist sehr aktiv, setzt viele Projekte um, oft gleichzeitig – was sehr viel Energie brauche. «Dabei spielt finanzielle Sicherheit immer eine Rolle. Da wir mit Dogo eine Residenz betreiben, wollte ich mich selbst mal in eine begeben können. Es ist zudem die Chance, einmal einen Reboot zu machen, herauszufinden, wo ich stehe und wo ich hinmöchte. Diese Zeit möchte ich nutzen, um aus meinen eigenen Strukturen auszubrechen», so Hörler. Mit dem Stipendium sind die Miet- und Reisekosten sowie ein Teil der Lebenshaltungskosten gedeckt. In seinem Projekt setzt sich Hörler mit Themen wie Gender, Identität und Sexualität auseinander, besonders interessieren ihn queere (Un-)Sichtbarkeiten sowie die Performance von Queerness. Im kommenden Monat legt er an seinem Startpunkt, der Bibliothek Andreas Züst, welche im Alpenhof Oberegg untergebracht ist, los und wird einen Monat dort leben.
Die Bibliothek umfasst etwa 10’400 Bücher zu Wetter, Geologie, Astronomie, Physik, Literatur, Fotografie, Kunst, Kitsch und Populärkultur. «Es ist eine grosse und wilde Sammlung. Zuerst steht vorwiegend Recherche an. Ausgangspunkt ist für mich das Buch 'Rückkehr nach Reims' von Didier Eribon», erzählt Hörler. Eribon sei in einer Provinzstadt aufgewachsen und habe sich durch seinen Weggang von den diskriminierenden Strukturen gelöst. Er schreibt von Erfahrungen im Leben, die er mit sich herumträgt und von denen er sich zugleich distanziert. «Auch ich habe mich vom Damals distanziert, trage das Appenzellerland als Idyll mit den schönen Brauchtümern aber in mir. Die Region mit fehlenden Kunst- und Kulturräumen, die für die persönliche Entwicklung enorm wichtig sind, nehme ich gleichzeitig aber auch als sehr konservativ wahr. Mit diesen Widersprüchlichkeiten will ich mich auseinandersetzen und Zugang zu den Rissen in meiner Biografie finden», meint Hörler. In diesem Rahmen will er sich mit queeren Theorien, den Konstrukten Gender, Identität und Sexualität beschäftigen. «Weitergehende Fragen sind zum Beispiel, ob es Werke von Appenzeller Künstlerinnen und Künstlern gibt, die sich mit Sexualität und Lust beschäftigen.»
Den grössten Teil des achtmonatigen Atelierstipendiums wird er in Berlin verbringen. «Dort habe ich meine Bachelorarbeit 'Ekstase, Exzess und kollektives Eskalieren' geschrieben, vorwiegend mit soziokulturellem Fokus auf die Technoszene. Nach Zürich ist Berlin mein zweites Zuhause geworden, die Dimensionen sind viel grösser und es gibt weitaus mehr queere und sexpositive Räume als beispielsweise an meinem Lebensmittelpunkt Zürich. Für die queere Geschichte ist Berlin unabdingbar.» Er findet es wichtig, dass es genügend Rückzugsorte gibt, in denen Menschen frei sein und sich entfalten können. «Ich bin ein privilegierter, in der Schweiz geborener weisser Cis-Mann und aus dieser Position heraus bin ich der Überzeugung, dass wir hier eine sehr konservative politische Stimmung kultivieren, die ich durch meine Arbeit ein Stück weit brechen möchte. Die grösste rechte Partei der Schweiz trägt hier natürlich die grösste Verantwortung und ist aus meiner Sicht nicht zukunftsfähig. Wenn ich mir also etwas wünschen könnte, wäre es, dass das Parlament antifaschistisch, feministisch, queer und links ist.» Ein Teil seines Projekts soll nach Abschluss unter anderem auch im Kanton Appenzell Ausserrhoden präsentiert werden – sieht er das Appenzellerland als bereit für diese Themen an? «Ich denke, dass sich viele bereits mit diesen Themen auseinandersetzen – wo das stattfindet, ist die grosse Frage. Deshalb ist es sicher gut, dass ein solches Projekt kommt, denn es geht um Sichtbarkeiten. Auch im Appenzellerland gibt es queere Menschen. Doch nicht jeder queere Mensch zeigt das öffentlich und es stellt sich auch die Frage, wie queer sich Personen zeigen müssen, um als solches wahrgenommen werden», so Hörler. Dabei spielten immer auch Familien- und Sozialstrukturen eine Rolle, nicht alle haben das Privileg, das offen zu zeigen. «Deshalb ist es umso dringender, sozialpolitische Fragen – und dazu gehören eben auch Gender-Fragen – an die Oberfläche zu bringen und eine öffentliche Diskussion abseits von Intoleranz zu eröffnen», ist er sich sicher.
Stefanie Rohner
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