Die St.Galler Zeichnungsschule als Künstler-Schmiede
Förderung des künstlerischen Wirkens auf der Grundlage des Stickerei-Entwurfs
Die 1867 gegründete Zeichnungsschule St.Gallen, auch Zeichnerschule und Schule für Musterzeichner genannt, brachte einige namhafte Künstlerinnen und Künstler hervor, die ihre erste Ausbildungszeit hier erfuhren. Obwohl auf die Stickerei-Industrie ausgerichtet, vermochte sie auch gewerbeunabhängiges künstlerisches Wirken einer ganzen Generation von Ostschweizern zu fördern.
Kunstgeschichte Sogar ein berühmter Künstler war in seinen jungen Jahren in St.Gallen als Lehrer tätig, nämlich Emil Hansen (1867 bis 1956) aus Norddeutschland, später bekannt als Emil Nolde. 1892 wählte man ihn in St.Gallen aufgrund seiner Skizzenbücher mit historischen Ornamenten unter 34 Bewerbern als Lehrer. Man erwartete von ihm eine Formensprache, die sich an alten Stilen orientiere. Nolde sollte Entwürfe für das Kunstgewerbe liefern und Unterricht im Flachornament erteilen. Schon bald suchte er jedoch seinen eigenen Ausdruck und setzte sich mit dem Jugendstil auseinander. An der Schule fand er dafür kein Verständnis. Es wurde ihm 1898 gekündigt, weil «es Herrn Hansen nicht gelungen ist, die gewerbliche Seite seiner Aufgabe, auf die von Anfang an ein Schwergewicht gelegt wurde, in einer Weise auszubilden, wie man es erwartet hatte.»
Sophie Taeuber-Arp
Die berühmteste Schülerin der St.Galler Zeichnungsschule ist zweifellos Sophie Taeuber-Arp (1889 bis 1943), die zu den wichtigsten Schweizer Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts zählt. Sie besuchte die Zeichnungsschule, die damals auch École des arts décorativs genannt wurde, von 1908 bis 1910. Aus einem Lehrerprotokoll geht hervor, dass Taeuber-Arp das Überspringen eines Semester empfohlen wurde, weil ihre Hochbegabung erkannt wurde. Ihre Mutter führte nach dem frühen Tod ihres Vaters eine Pension für die Kantonsschule in Trogen. So dürfte die vielseitige Künstlerin zu den ersten Pendlerinnen der Trogenerbahn gehört haben. In Zürich, wo sie dann ihren Mann Hans Arp kennenlernte und wo sie zur Dada-Bewegung gehörte, war sie auf verschiedensten Gebieten künstlerisch tätig. So wirkte sie hier wie später auch in Paris als Schneiderin, Architektin, Möbeldesignerin, Zeichnerin, Plastikerin, Tänzerin und Lehrerin. Im Textilmuseum befinden sich noch immer Spuren von Taeuber-Arp. Sie zeigen frühe Werke mit geometrischen Formen, denen sie während ihres ganzen Lebens treu geblieben ist.
Fritz Gilsi
Von 1897 bis 1898 besuchte Fritz Gilsi (1878 bis 1961) als Schüler von Johannes Stauffacher (1850 bis 1916) während fünf Semestern die Zeichnungsschule. Die Ausbildung schloss er als Stickereizeichner ab. Während dieser Ausbildung verliebte er sich in seine Mitschülerin Emmy Brunschweiler (1887 bis 1922). Mit ihr blieb er in Kontakt und heiratete sie 1901. Anschliessend war er abwechslungsweise in Paris und St.Gallen im Kunstgewerbe tätig. Danach nahm er in St.Gallen eine feste Stelle als Stickereizeichner an, bevor er die ersten dem Jugendstil und dem Symbolismus nahestehenden Gemälde schuf. Nach dem Tod seiner Frau begann er für den «Nebelspalter» und als Lehrer an der kunstgewerblichen Abteilung der Gewerbeschule zu arbeiten. Zu seinen wichtigsten Arbeiten zählen jene Sinnbilder, welche die Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber dem Leid der Mitmenschen zeigen.
Sebastian Oesch
Sebastian Oesch (1893 bis 1920) besuchte als Sohn des Polizeikommissärs Eduard Oesch nach der Katholischen Kantonsrealschule die Zeichnungsschule. Eine grosse Schaffenskraft entfaltete er in den letzten fünf Jahren seines kurzen Lebens, als er mit Aufträgen der ostschweizerischen Stickereiherren förmlich überhäuft wurde. Er wohnte nach seiner Rückkehr von Paris im Schlösschen Appenzell. Bis zu seinem Grippetod schuf er auch diverse expressionistische Darstellungen des appenzellischen Landlebens, ohne der idealisierenden Folklore zu verfallen.
Theo Glinz
Theo Glinz (1890 bis 1962), der in Lenzburg aufwuchs, wo sein Vater als Zeichnungslehrer wirkte, besuchte die St.Galler Zeichnungsschule. Er blieb in St.Gallen, bezog später das Schlösschen Wiggen oberhalb von Rorschach und wohnte danach in Horn. Studienreisen führten ihn nach England, Korsika und ins Tessin. 1937 schuf er das imposante Wandbild «Odysseus und Nausikaa» vor dem Lehrerzimmer in der Kantonsschule St.Gallen. Dieses wurde bei der Renovation 1991 überdeckt. Zur Hauptsache aber schuf er Landschaftsbilder. Aus seinem Schaffen sticht besonders das Ölbild «Er spricht zu seinem Volk» von 1942 hervor, eine malerische Umsetzung der Satire von Charles Chaplins «Der grosse Diktator».
Ignaz Epper
Der Holzschneider, Maler und Grafiker Ignaz Epper (1892 bis 1969) besuchte als Sohn eines Stickereizeichners die St.Galler Zeichnungsschule von 1908 bis 1912. Hierauf arbeitete er als Entwerfer für die Firma «Selig», um sich später in Zürich mit seinen Holz- und Linolschnitten als einer der namhaftesten schweizerischen Expressionisten mit sozialkritischen Themen zu etablieren. Ab 1933 lebte er in Ascona. Einige seiner Werke wurden 1937 aus deutschen öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt und vernichtet. 1974 wurde die in Ascona ansässige «Fondazione Ignaz e Mischa Epper» gegründet und 1980 das Museum «Epper» eröffnet.
Hedwig Scherrer
Die Zeichnerin, Malerin, Buchillustratorin, Figuren- und Kostümentwerferin, Architektin, Frauenrechtlerin und Pazifistin Hedwig Scherrer (1878 bis 1940) liess sich während vier Jahren an der Zeichnungsschule ausbilden, ohne direkt einen Beruf in der Textilbranche im Auge zu haben. Von ihren beiden Lehrern Johannes Stauffacher und Emil Hansen wurde sie als «sehr begabt» eingestuft. Als Entwerferin von St.Galler Trachten wurde sie populär. Von grösstem künstlerischen Wert war aber die friedensfördernde Vermittlung mit dem Mittel der Kunst.
Hans Brühlmann
Der Toggenburger Hans Brühlmann (1878 bis 1911) brachte als Gymnasiast seine freie Zeit im St.Galler Textilmuseum zu, wo er in der Zeichnungsschule unter Johannes Stauffacher als Hospitant Stunden besuchte. Trotz seines durch Krankheit stark beeinträchtigten Lebens hat er ein umfangreiches Werk von Gemälden, Zeichnungen und Wandbildern geschaffen, das Landschaften, Porträts, Figürliches und Stillleben umfasst. Neben Toggenburger Ansichten fiel er vor allem durch seine Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur auf.
Ferdinand Gehr
Der Kirchenmaler Ferdinand Gehr (1896 bis 1996) trat als Sohn eines Handstickers ebenfalls zunächst in die Zeichnungsschule ein, um während des Ersten Weltkriegs als Vergrösserer von Textilentwürfen zu arbeiten. Bekannt wurde er durch seine sakralen Kunstthemen. Er wird zu den grossen, international anerkannten Kirchenmalern des 20. Jahrhunderts gezählt, zunächst aber war er sehr umstritten. So mussten in einzelnen Kirchen seine Werke abgedeckt oder gar entfernt werden. Typisch für seinen Stil sind auf klare Formen reduzierte Farbkombinationen. Das Malen war für ihn religiöse Inspiration.
Schule für Gestaltung
Einige Künstler besuchten auch die städtische Gewerbeschule, die schon früh auch eine Gestaltungsabteilung führte. Augustin Meinrad Bächtiger (1888 bis 1971) wandte sich in Gossau der Kirchenmalerei zu. Josef Eduard Büsser (1896 bis 1952) besuchte für seine Grundausbildung ebenfalls die St.Galler Gewerbeschule, bevor er seine zweijährige Ausbildung zum Stickereizeichner begann. Er führte zahlreiche dem Realismus verpflichte Plastiken aus, so St.Martin vor der Martinskirche in St.Gallen-Bruggen. Als Lehrer für Modellieren wirkte hier der Bildhauer Wilhelm Meier (1880 bis 1971), der die Skulpturlandschaft in St.Gallen geprägt hat. Willy Thaler (1899 bis 1981) absolvierte eine Stickereizeichnerlehre, bevor er sich zeitlebens als Künstler in St.Gallen dem Spätexpressionismus zuwandte. An der Gewerbeschule unterrichtete auch kein Geringerer als August Wanner (1886 bis 1970), der Glasmalereien und Plastiken religiösen Inhalts schuf. Heute führt das Gewerbliche Berufs- und Weiterbildungszentrum (GBS) eine Schule für Gestaltung, eine Höhere Fachschule für Künste, Design und Gestaltung. Sie wird sicher weitere namhafte Ostschweizer Künstler in der Startphase begleiten.
Franz Welte